Unter dem ruppigen Wind
Wie die Zeit wieder floh. Ein halbes Jahr zog dahin in schneller werdender kleiner und großer Geschichte. Der Versuch eines Sommers in Kurzschrift, zu viele Gedanken in wilden Tagen, lose Enden, ungeordnet, ineinander verheddert. Ein neues Normal im Wahnsinn, oder allgegenwärtiger Wahnsinn als neues Normal. Vermeintliche und tatsächliche Wendepunkte, Umbrüche, immer lauteres Geschrei und Chaos allerorten, immer schlechteres Gewissen für die sicher unverdienten kleinen Inseln der Ruhe in all dem. Man müsste alles ändern, eigentlich, und eigentlich könnte man auch, wenn nur die Anderen nicht beständig in die Quere kämen und dagegen arbeiten würden. Gedankendunkel und Frust, dazu Kaffee, junge hungrige Spatzen und die Generation neuer Mäuse zwischen dem Staudenbeet und dem Flieder. In diesem nahen Kleinen geht der Rhythmus des Jahres weiter wie gewohnt, in einer Routine, die je nach Tageslaune beruhigend wirkt – oder wie der zynische Fingerdeut eines viel größeren und älteren Ganzen, die Relevanz eigenen Treibens bitte richtig zu bewerten und einzuordnen, danke. Orte und Momente von Demut und Dankbarkeit, immer wieder, immer noch.
Solches auch jenseits des Gartens und der Stadt: Wieder einmal unterwegs, in der Welt der Pandemie, der Welt nach und möglicherweise vor den Lockdowns. Oslo. Ein kurzer und sehr anderer Ausbruch aus dem üblichen Rhythmus. Neue Orte, neue Bilder, neue Menschen, andere Sprache, eigenartige Ferne und seltsame Nähe. Sonnenuntergang über dem Skagerrak, Schiffe, die in vorsichtigem Abstand vorüberziehen, noch lange als schwarze Punkte kleiner werden, irgendwann in der Ferne verschwinden. Zivilisation als kleine helle Flecken in der Ferne tiefer werdender Nacht. Dann Trutzfeste im engen Fjord, schwere Kanonen mit biblischen Namen. Holzhäuser, Inseln. Eine alte Burg, Schritte über staubige Wege, nur einen Steinwurf entfernt gentrifizierte Architektur, Wasser, an dem im April schon quiekende Kinder baden. Später Rotwein an frühlingshaftem Stadthafen in einer Nacht, die den Sommer ebenso nah wie die andere Wirklichkeit fern sein läßt. Kurzer Exkurs, im Tosen dieser Tage unwirklich, plötzlich, ruhig, ein Aufbruch ins Neue, eine Rückkehr vollbeladen mit Eindrücken und Momenten, die längst nicht alle sortiert sind. Viel Faszinierendes, viel Widersprüchliches. Einmal mehr das Wissen: Die kleine Welt ist groß, unfassbar die Menge an Orten, die unbekannt blieben bislang, die Menge an Bildern, die man noch nicht gesehen hat, wohl auch nie sehen wird, die Menge an Lebensweisen, die verschlossen und fremd bleiben werden. Armut, Reichtum, Widersprüchlichkeiten inclusive. Die ultimative Filterblase der eigenen engen Realität.
Unterwegs ferner auf kürzerer Strecke: Werben bei Havelberg. Einige Nächte des Lebens abseits aller großen Zivilisation, Entschleunigung schon im Warten an der alten Elbfähre. Sonne auf einem breiten ruhigen Fluss, Sandbänke, Grün, darüber Stimmen und Flugbilder von Wasservögeln. Etwas weiter dann das alte sanierte Feldarbeiterhaus als tatsächlicher Minimalismus-Selbstversuch. Große Wohnküche mit Kohlenofen, provisorischer Küchenzeile, einem Tisch groß genug für mindestens zwei Familien. Wohnzimmer und Bad ebenerdig, harter Steinfußboden, grobe Dusche, alte Badewanne. Große Holztür, ungedämmt, das Schloss aus robustem Stahl mit schwerem, mechanischem Schlüssel. Ein Schritt über die solide Steinschwelle, erdige Wiese unter den Füßen. Die Grenzen zwischen Draußen und Drinnen verschwimmen, man erlebt Dinge wieder, die man aus der Kindheit vom Dorf kennt und in der Stadtwohnung gänzlich vergisst. Etwa ein Konzept wie Hausschuhe. Oder das winterliche Wohnen in dem einen einzigen Raum des Hauses, der in der Frostkälte eines schneereichen Januars immer wohlig beheizt wurde mit Kohlen, die es damals wie heute von draußen aus dem Schuppen zu holen galt. Oder Schließanlagen. Oder ausufernde Unterhaltungselektronik. Oder öffentlicher Transport-Infrastruktur (besonders dann, wenn man auf dem Deich durch die Wiesen hin zu den roten Dächern der kleinen Stadt wandert, die nur langsam näherkommen in der weiten Ebene). Dafür steht im Wohnzimmer ein Klavier, vor den Fenstern liegen Bücher, Gedichtbände über die Mark, Texte von Theodor Fontane. Man würde nicht immer so leben wollen und vermutlich auch nicht können. Man will, einmal mehr, dankbar und bewußt sein für die Möglichkeiten und Selbstverständlichkeiten, auf die man jeden Tag zurückgreifen kann. Und ärmliches Leben will man nicht, nie romantisieren. Aber in solchen Momenten merkt man, was in Stadtwohnungen des globalen Nordwestens an Lebensbedingungen gegeben ist, die über lange Zeit nicht selbstverständlich waren, das immer noch für viele nicht sind und von denen vielleicht auch manche hinterfragt werden dürfen. Ein sehr eigenartiges Gefühl.
Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf; wer demütig ist, der sieht die Scheidewände fallen und erblickt den Menschen im Menschen.
Theodor Fontane
Unterwegs weiterhin im Alltag. Bekannte Tage, neues Büro. Schritt heraus aus der Isolation der eigenen vier Wände. Mehr soziales Leben, Grillen auf der Dachterrasse, Kaffee im Flur, Gespräche über Dienstliches und Privates zwischen Tür und Angel. Pragmatismus, auch ein wenig: Weniger Strom, perspektivisch weniger Heizung auf der eigenen Rechnung durch den Wechsel vom Heimbüro ins Bürobüro. Es gibt Schlimmeres, sicher. Schritt heraus auch in der stringent durchorganisierten Produktivität der nahen Umgebung, den Tagen ohne Grenzen zwischen Dienstleben und Privatleben, den Tagen, in denen sich der Arbeitsweg vollständig auf das Öffnen und Schließen einer Tür beschränkte. Zumindest vorerst für drei Tage die Woche. Ein vertrautes anderes Stadtviertel, neue Straßen, neue Routinen. Man lernt den Bäcker, den anderen Supermarkt kennen. Man versteckt das Fahrrad an den Ständern unter den Büschen. Man schleicht mittags durch den Hinterhof, in dem der Springbrunnen ganztägig den Klang von Regen erzeugt – oder dem Rauschen einer fernen Küste, an die die Gedanken mitunter fliehen. Nicht nur in diesen Tagen, aber vielleicht in diesen Tagen etwas mehr.
Nebenbei in der digitalen Welt: Die üblichen Aufreger. Der Autobauer will Twitter kaufen. Reaktionen sind erwartungskonform harsch. Sturm der Entrüstung, Sturm im Wasserglas. Laute Aufregung über den Sellout, laute Aufregung über jene, die “trotz besseren Wissens” immer noch auf der “offensichtlich üblen” Plattform sind. Ein Zustrom von Nutzern in Netze, die ich eigentlich seit langem bevorzuge (allem voran Mastodon). Teils diskutable Begrüßungen. Teils sehr lange Metadiskussionen und Threads, mündend in der Erkenntnis einiger Übersiedler: “Auf Twitter spreche ich über Themen. Auf Mastodon streite ich über Mastodon vs Fediverse.” Fast-forward einige Wochen, der Sturm hat sich gelegt. Einige Menschen sind in der neuen Welt geblieben, bereichern die anderen Netze mit neuen Themen, mehr Bandbreite, mehr Vielfalt. Einige (viele?) sind nach dem Durcheinander der Geschichten um Twitter und Musk dorthin zurückgekehrt, wo ihre Themen, ihre Peer Groups, ihre Netzwerke weiterhin geblieben sind, leben und sprechen. Einmal mehr zeigt sich: Strukturelle Probleme lassen sich extrem schlecht durch individuelle Entscheidungen lösen. Und: Mastodon oder das Fediverse haben mehr als genügend sehr interessante Hürden, die diese Welt für eine Breite von Nutzern zwar interessant, aber trotzdem nur sehr schwer erreichbar machen. Letztlich bricht es sich wohl auf die Fragen herunter: Was, wenn es mehr um Menschen als um Technologie und Techno-Politik geht, wenn die Chance und Möglichkeit, viele Leute niederschwellig und leicht zu erreichen, wichtiger ist als wohlmeinende, aber abstrakte Konstrukte wie digitale Autonomie und Datenhoheit? Und: Wollen wir, dass gesellschaftlicher Diskurs, Journalismus zu einer erschreckend großen Bandbreite an Themen, letztlich sogar politische Meinungs- und Willensbildung in einer privatwirtschaftlich betriebenen, kommerziellen Plattform stattfinden, oder ist das eher keine gute Idee? Falls Letzteres: Was braucht es, um von diesem Zustand möglichst schnell wegzukommen, und was sind wir selbst bereit, dafür zu tun? Nur der Ansatz, Nutzer, die weiterhin wegen ihrer Menschen auf Twitter, Facebook, … verweilen, als zu faul oder zu bequem zu etikettieren wird es vermutlich nicht allein helfen…. und auch nicht die Erkenntnis, dass irgendjemand letztlich jederzeit eine solche Plattform, all ihre Kontakte und Kommunikation, kaufen, durchleuchten, abriegeln, anders als bisher verwerten könnte. Mit allen absehbaren und unabsehbaren Konsequenzen. Bekannte Muster, nichts davon ist leider neu.
Bekannte Muster aber eben auch anderswo, in Zeiten voller kleiner und großer Sorgen, zu denen Diskurse über Überwachung, Plattformkapitalismus, subtile digitale Manipulation auch gehören, genau so wie die Sorge um Klimawandel, Krieg, Diskriminierung, Hass und Hetze im Allgemeinen. Hier allgegenwärtig: Wettbewerb. Den es scheinbar immer braucht, damit wir unsere Welt irgendwie in Bewegung halten können. Auch Wettbewerb zwischen Ängsten. Ein Ringen zwischen globalen und individuellen Bedrohungen, Ringen um Prioritäten und Sichtbarkeiten von Themen, die dringendst Handlungen erfordern würden. Verloren der, den die falsche Angst umtreibt in diesen Tagen, der, dessen Sorge in diesem Wettbewerb den Kürzeren zieht. Es fehlt uns nicht an globalen Problemen, es fehlt uns nicht an Herausforderungen, die man abstimmen, ordnen, lösen müsste. Es fehlt uns nicht an schlechten, harten, bitteren Worten füreinander. Es fehlt scheinbar an der Erkenntnis, dass Ängste emotional aufwirbeln und nur teilweise faktisch zu fassen, zu beruhigen sind. Es fehlt uns wohl nur allzu oft an Perspektivwechsel, Empathie und Solidarität im allgegenwärtigen Lärm. Nichts Neues. Alles wie immer.
Zwischendrin deswegen, immer wieder: Eskapismus in Musik. Sommerpause bis September im bandcampfriday. Vorher noch lärmt Violent durch die Boxen, “Anxiety” (here we go again…), harter EBM-Techno, alles und jeden übertönend. Etwas ruhiger, dunkler und kälter: “Mirages”, das Debüt von Figure Section, stilistisch und qualitativ logische Fortsetzung der vorangegangenen Singles. Finally: “Bitter” des Londoner Post-Punk-Quartetts Ghum, die mit “California” vielleicht die beste musikalische Antwort auf die Pandemie-Lockdowns gefunden haben und deren EP hier seit langem immer wieder durch die Kopfhörer geistert. Hier sind Bass, Gitarre, Schlagzeug und Stimme. Sommerabendmusik. Viel Ton, viel Abwechslung, auch wieder mehr in Zeiten, in denen Pendeln zwischen Wohnung, Büro, Garten wieder ein Thema werden. Musik, die in den Gedankenbildern dieser Tage nachhallen wird, irgendwann.
Inmitten all dieser losen Bilder und Gedanken verblasst der Versuch eines Sommers in Kurzschrift, eines gerade im Moment windigen, kalten Sommers. Die letzten Tage haben viel Regen über das Land, die Stadt, die Wälder, den Garten getrieben. Zwischen vergangenen und kommenden heißen Wochen ist die Erde seit Langem wieder einmal auch in die Tiefe feucht und schwer, sprießen die Ringelblumen zwischen den Kohlpflanzen, darf das Grün ranken und wuchern auf dem kleinen temporär eigenen Fleck Erde inmitten des großen Ganzen. Das Viertel lebt in einer Ahnung von Sommerferien, jener Zeit, in der man sich an Jugendjahre erinnert, an Tage ohne Rhythmus für sechs oder acht Wochen, an lange warme Nachmittage, den Duft von altem Holz und endlosen trockenen Nadelwäldern. An Festivals und Zelte, später. An Abschied und Weiterziehen. An die Ahnung, dass mit der Rückkehr in den Alltag auch ganz langsam wieder grüne Blätter gelb werden, Spinnweben in den Wiesen hängen, erste Ahnungen von Herbst über allem hängen – eine Ahnung, die dann und wann noch in allen Dingen ist und bleibt, vor allem abends, am offenen Fenster, in wärmeren Zeiten und dem Wind aus den Wiesen. Und aber, auch, irgendwie, an das Jetzt und den Moment, die heiße Straße unter den Füßen, den tiefblauen Himmel über den Kopf zwischen den Bäumen, den Baggersee, Mixtapes mit verblichenen Covern und unscharfe Polaroids. Vielleicht auch keine schlechte Zeit. Insofern: Kommt gut durch den Sommer. Und passt auf Euch und die Euren auf.🙂️