Irgendwo im Schnee.
Dritte Woche des Monats, des Jahres. Und noch immer kein richtiger Rückblick auf 2022. Unschlüssig: Fehlen insgesamt Worte? Oder fehlen nur freundliche Worte, schöne Worte, milde Worte? Vielleicht irgendwie beides. Herbst floh, kaum wahrnehmbar bis auf wenige Tage, an denen Nebel seinen Weg in die Höfe fand. Früher dichter Schnee, ein paar Momente der Kälte und eines kindlichen Wintergefühls. Jahresend-Rituale: Weihnachten im Licht, auch in dunklen schweren Zeiten, die traditionelle Urfähigkeit des Erzgebirgers, und trotzdem eingeschränkter in diesen Tagen. Letzte Sterne, die bis Anfang Februar nächtliche Räume erhellen, bis in eine Zeit, in der die Tulpen auf den Fensterbrettern entlang der Straße längst ebenso Gewohnheit wurden wie die Tanne, der über viele Wochen der Wohnraum maßgeblich gehörte, bis die Nadeln welk und gelb wurden und Entscheidungen zu treffen waren. Jetzt warten die Äste darauf, im Garten die Rosen und die Blaubeeren zu bedecken, wenn es an der Zeit ist. Füße stehen im Schlamm, verkrustete schwarzbraune Erde klebt auf Schuhen und Hose. Der Maulwurf hat die Reste der Wiese vollends umgegraben, sich aber zumindest auf diesen knappe Fläche beschränkt. Zwischen Laube und Büschen fressen Vögel und Mäuse all das, was Sommer und Herbst zurückließen. Weiter als sonst reicht der Vorrat an Futter in diesem milden Winter. Gelegentlich läuft Wasser durch die Dachrinnen, füllt die Tonne, lässt Dach und Boden glücklicherweise noch trocken. Immerhin. Und manchmal, auch an kurzen Tagen, ohne Wasser und Kaffee, schafft man es, zeitgleich mit der Sonne dort draußen im Grünen zu verweilen. Wenn die Tage vor der Dämmerung beginnen und nach der Dämmerung enden, sind es Kleinigkeiten, von denen ein Gefühl unverdienten Luxus' ausgeht. Eine Hoffnung auf, eine Ahnung von Frühling in Zeit ohne richtiges Zeitgefühl.
Dritte Woche des Jahres. Längst zurück im regulären Programm. Ausstieg aus dem Alltagsrhythmus für die Weihnachtsfeiertage, den Jahreswechsel seit langem eine andere Art von Luxus, aber auch ein spezieller Abstand, nach dem die Rückkehr ins Normale schwerer fällt als zu anderen Zeiten. Es sind Erinnerungen, wiederkehrend und intensiv. Weihnachten am großen, vollen Tisch. Ruhigere Stunden zwischen den Jahren. Momente mit lieben Menschen, die warm und wertvoll sind, Gedanken füllen, immer wieder schnell vergehen. Und dazwischen noch das Umhängen der Kalender. Ein bedeutungs-überladener Tageswechsel. Alles zurück auf Null oder Eins. Einige Gedanken am Vergehenden, einige spärliche Vorsätze fürs Neue, einige spärliche Hoffnung, einiges an dumpfer Sorge. Einige Momente, in denen im Lauten und Bunten kurz die gedanklichen Wolken, die über diesen Tagen schweben, nicht so gut hörbar sind. Und plötzlich sind die Momente weitergezogen, bleibt die Sonne nachmittags wieder länger über dem Horizont, ziehen Karneval und Osterhasen in die Regale der Supermärkte ein. Es ist schwer, im Fluß der Zeit den Kopf oben zu behalten. Schwer, alle Bilder zu erfassen. Schwer, im Durcheinander genügend viele Gedanken zu fassen und niedergeschrieben zu bekommen.
Dritte Woche des Jahres. Unverändert, seit Monaten, seit zu langem, die Themen, die umtreiben und beschäftigen. Die Schwere und die Unsicherheiten dieser Tage, die sich im Vergleich zu 2022 und all seiner Dunkelheit zumindest nicht verbessert haben. Die Pandemie hat ermüdet. Die gesellschaftliche Zerrissenheit hat ermüdet. Die Gewalt des Krieges und seiner Bilder im letzten Jahr haben ermüdet. Die täglichen Diskussionen zu all den Fragen dieser Tage erschöpfen und ermüden, zumindest wenn man nicht robust, verdrängend oder ausgeglichen genug ist, sich diesen Dingen und ihrer Wirkung weitestgehend zu entziehen, und sei es aus purem Selbstschutz, sei es aus Einsicht in die völlige Sinnlosigkeit der eigenen Gedanken und der eigenen Meinung dazu, ganz gleich, wie heftig sie vorgetragen wird. Aber vielleicht ist schon die Fähigkeit, eine Meinung "einfach" zu haben und vortragen zu können, bemerkenswert in diesem Geschrei, weil die Dinge mehr denn je nirgends einfach sind, wo man etwas genauer hinschaut: Es ist leicht, gegen Inklusion, Diversität, Sichtbarkeit von Menschen mit anderen Lebensrealitäten zu hetzen, wenn man nie die Herausforderung hatte, schon in Banalitäten außerhalb des schmalen Normalbereichs gesellschaftlicher Konventionen stehen, gegen die eng definierte Wahrnehmung dessen kämpfen zu müssen, was schon immer "gut" und "richtig" war. Es ist leicht, Gewaltverzicht in aller Konsequenz zu fordern, wenn man immer noch relativ sicher leben darf und nicht in der Situation gefangen ist, dass andere völlig unberührt von dieser Weltsicht Gewalt nutzen und bis zur Erreichung ihrer ganz eigenen Ziele einsetzen werden, egal, wie sehr einem selbst das in der Folge der Ereignisse schmerzt oder schadet. Es ist leicht, Mobilitätswende jetzt zu fordern und den sofortigen Verzicht auf Autos zu meinen, wenn man schon immer die Wahl hatte, sein Leben mit Alternativen mindestens einigermaßen, vielleicht sogar deutlich besser zu organisieren. Es ist leicht, den Verzicht auf "toxische" digitale Technologie, auf Netze wie WhatsApp, Facebook, Twitter zu fordern, wenn man nie in einer Situation war, in der relevante Gruppen im Umfeld sich sehr selbstverständlich über diese Kanäle organisiert haben und diese Wahl dem Individuum schlicht nicht (mehr) offen oder zur Verhandlung stand. Es ist leicht, in sprachlich geharnischten Texten allgegenwärtige Verantwortungslosigkeit anzuprangern und harte Einschränkungen für eine bessere Welt zu fordern, wenn man diese Texte an einem frühen Werktagsnachmittag im wertkompatiblen Café auf dem MacBook schreiben und dazu in Cappuccino aus fair gehandeltem Kaffee und Kuchen aus dem Hofladen von vor der Stadt während einiger weniger Stunden nebenbei das Budget verkonsumieren kann, das Armutsbetroffene für einen ganzen Tag für Ernährung zur Verfügung haben. All das ist bitter, weil es so subjektiv und vereinfacht ist. Zu all diesen Punkten gibt es vermutlich exakt genau so hart formulierbare, vollständig valide Gegenstandpunkte, an dem man irgendwann vorbeikommt, wenn man lang genug den Blick durch die Augen Anderer wagt. Es ist dies mehr als alle andere Unsicherheit, die diesen Tagen unruhige Schwere gibt: Nur sehr schwer irgendeine "richtige", sichere belastbare Meinung haben zu können, die nicht entsteht ohne ein gemeines dumpfes Bauchgefühl, wichtige andere Perspektiven zu ignorieren, die in berechtigtem Widerspruch zur eigenen Welt stehen. Es sind diese Unsicherheiten, die alles in jedem Augenblick noch mehr drücken, getrieben von widersprechenden Fakten, ausnahmslos verheerenden Konsequenzen und eigentlich keiner Möglichkeit, eine wirklich "kluge" Entscheidung zu treffen. Die die schon seit Jahren viel und erfolglos beschworene Gemeinschaft der Menschen in Krisen zunichte machen. Es sind die Unsicherheiten, die dafür sorgen, dass wir selbst angesichts größter Herausforderungen lieber darauf zurückfallen, dann doch wieder in sinnlosen Auseinandersetzungen miteinander im Kleinen verlorenzugehen, ungeachtet der Mittel. Gedanken, die ein trübsinniges Bild von der Welt im Januar 2023 zeichnen, und Fragen stellen: Gibt es ein "Zuviel" an Information? Ist es das, was dafür sorgt, dass überall Menschen und Meinungen an Boden gewinnen, die Komplexität "einfach so" beseitigen, weil sie sie nicht betrachten wollen? Und: Ist es ein fatales Experiment, all diese Meinungen unmoderiert, ungeübt auf einem großen globalen Dorfplatz aufeinanderprallen zu lassen, auf dem wir nicht einmal geübt haben, die Werte der Anderen zu erkennen, geschweige denn zu respektieren oder zu verstehen? Trübsinnige Betrachtungen so früh im jungen Jahr... Schwer, darüber zu schreiben. Keine Bitte um Kommentare, keine Suche nach Reflektionen und Deutungen. Es mangelt nicht an Standpunkten, die zu verarbeiten sind. Es mangelt an Orientierung in all dem. Viel häufiger als bisher. Viel zu häufig.
Dritte Woche des Jahres, auch im Netz, um das Thema fortzuführen. Und, weil Kommentare: Das Blog sieht anders aus als bisher. Auf neuer Technik, wie beschrieben. Weniger Features, die es nicht braucht. Etwas weniger Wartungsaufwand für einen ohnehin mir manchmal nicht mehr ganz klaren Zweck. Kein Kommentarfeld mehr. Und vieles andere auch nicht mehr, was immer da und nie notwendig war. Dies ist der erste längere Text in der neuen "Welt", und bislang fühlt es sich leichter, befreiender an. Vielleicht war es das schon wert.
Daneben: Fediverse, Mastodon und die Welt außerhalb der großen sozialen Medien. Immer noch ein Thema für sich, interessant, schwierig auf vielen Ebenen. Twitter, Musk, öffentliche globale Konversationen in einer höchst privaten, auf Gewinn ausgerichteten Plattform, die nur sehr eingeschränkt überhaupt offen, demokratisch, ethisch kontrollierbar ist. Systeme, die für viele verschiedene Menschen viele verschiedene Bedeutungen haben und bei denen das eigentlich Problematische nur ist, dass sie irgendwie "too big to fail" geworden zu sein scheinen. Andererseits viel technisches Denken, viel "golden hammer", viel Nerd-Sprech, der letztlich leider auch nur allzu oft privilegienblind ist. Insgesamt ... ich mag das Fediverse, weil ich schon ewig dort bin, wie ich auch immer gern im offenen Internet war. Und wie ich lang nicht wirklich verstanden habe, was Menschen auf geschlossene Plattformen zieht - wissend, dass zumindest ein guter Teil der "early adopters" von Facebook, Twitter, Google, ... jetzt auf der Seite der lautesten Kritiker lautstark "nicht verstehen", wie man "in diesen Tagen dort noch bleiben" kann, aber das nur am Rande. Wer hätte noch in den 1990ern ein Mobiltelefon gekauft, mit dem er nur Menschen mit gleichem Gerät anrufen kann, wer einen Mobilfunkvertrag abgeschlossen mit einem Anbieter, über den er nur Menschen im gleichen Netz erreicht? Vermutlich keiner. Bei Twitter, Facebook, WhatsApp ist diese Bindung an einen einzelnen Anbieter völlig verständlich geworden, möglicherweise aber die Welt auch komplexer, eventuell die fehlende Regulierung dieser Dienste das Kernproblem. Den Rest erledigen prominente Nutzer und Angebote, deren Anziehungskraft groß genug ist, Menschen dorthin zu ziehen, dort zu halten. Netzwerk-Effekt. Marktführer-Effekt. Wer groß ist, ist groß, weil er groß ist, und bleibt deswegen groß. Wer groß ist, wird nicht hinterfragt. Dem gegenüber steht ein loses, faszinierend offenes, faszinierend freundliches System. Mit nicht zu vernachlässigernder Komplexität. Oftmals "opinionated" und mit einem sehr klaren, nicht immer zutreffenden oder fairen Erklärungsmodell gerüstet, warum Menschen handeln, wie sie es tun. In dem man eine initiale Lernkurve meisten und sich dann Stunden, Tage, Wochen mit Technologie beschäftigen kann und teilweise auch muss. Da ist eine schwer zu überblickende Menge an kleinen Unzulänglichkeiten, an denen man gelegentlich hängen bleibt, und großen ernsten Herausforderungen, über die wir bislang zum Glück selten gestolpert sind. Da ist eine schier endlose Menge von Instanzen und Werkzeugen, die man "einfach mal" probieren sollte. Es gibt Instanzkombinationen, in denen man heute schon mehrere Accounts braucht, um mit seinen Nutzern in Kontakt zu bleiben, bei aller Offenheit. Es gibt eine Bandbreite an mobilen Apps, um auf die verschiedenen Dienste zuzugreifen, alle mit etwa gleich vielen Vor- und Nachteilen in der täglichen Nutzung. Es gibt Fragmentierung, Inselbildung, digitale "Balkanisierung" als Gegenteil oder problematischen Bruder offener Verteiltheit. Es gibt diesselbe schwierige Randbedingung, die auch andere offene Plattformen an anderen Stellen (Desktop-Linux) leider immer nach sich ziehen: Werkzeugwahl läuft Gefahr, zum Selbstzweck zu werden, Auswahl, Vergleich, Pflege des Werkzeugs viel mehr in den Mittelpunkt zu stellen als die eigentliche Arbeit damit. Das ist schön für all jene, die gern Werkzeuge vergleichen und damit ohnehin keine richtigen Aufgaben lösen müssen, aber eher schwer bis unbeherrschbar für alle, die unter fixen Randbedingungen (beginnend mit Zeit) Arbeit zu tun haben und dafür Werkzeuge brauchen, die verlässlich und sicher funktionieren... Aber vielleicht bietet zumindest dieser Aspekt für das kommende Jahr Raum für Gelassenheit. Vielleicht ist es überhaupt nicht wichtig. Vielleicht reicht Entspanntheit, lockere Interaktion und die Perspektive, all die Dinge nicht zu ernst zu nehmen, zu tun, was sich für den Moment irgendwie sinnvoll anfühlt, und nicht zu tun, was sich, nun, nicht mehr gut anfühlt. Vielleicht punktuell im Rahmen des Möglichen helfen, die Welt ein wenig besser zu machen. Und aber auch zu akzeptieren, dass man sie nicht retten wird, nicht hier, nicht mit der eigenen knappen Kraft.
Dritte Woche des Jahres, irgendwo zwischen Podcasts und Musik, wahllos, unschlüssig. Kalte Tage, Pendeln in der Straßenbahn, zu viel allgegenwärtiges Rauschen, damit bleibt wenig Kraft für Konzentration auf Klang-Kulissen oder komplexere Themen. Die Tage unter den Kopfhörern, das Kratzen des Zuges auf den Gleisen, die Gespräche der Menschen insbesondere auf dem Weg nach Hause lassen nur allzu oft den Wunsch auf zusätzliche Klänge gering werden gegenüber dem Bedürfnis nach zumindest temporärer Stille. Häufungen in der Playlist seit dem Herbst, zwischendrin: Long Night aus Norwegen. Viele große Namen in der Bandgeschichte. Und einige griffige Songs, die den Gothic Rock als Genre nicht neu erfinden, aber zumindest poliert und glaubwürdig in ihrer Zeit gehalten haben und einfach gut funktionieren. Dann "Call Of The North" und einige andere verwandte Werke von Ugasanie, weil der Winter guten, kalten Dark Ambient braucht. Und Pechora. Blackened Hardcore aus St. Petersburg. Gefunden darüber, weil Ksenia von Supruga einem Track ihre markante Stimme leiht, und hängengeblieben, weil auch der Rest der Musik gut funktioniert. Musikalisch und geographisch anderswo Left For Pleasure aus Halle. Synthwave. Cold Wave. Die Art von Musik, die seit den ersten Linea Aspera - Alben hier einen festen Platz auf und in den Playlists hat. Und schließlich laute, dunkle Elektronik von Yoan Lokier. Musik zum Arbeiten. Musik, wenn es eher Bilder als Gedanken braucht. Musik für innere Filme, insbesondere nach der Dämmerung. Musik, die die Themen der Zeit nicht heilt, aber zumindest kurzfristig übertönt.
Dritte Woche des Jahres. Kurz kehrt der Winter zurück, bringt etwas neuen Schnee, etwas neue Kälte, aber mitunter auch etwas Klarheit in den Tagen, zumindest früh, kurz nach der Dämmerung, wenn der erste Kaffee noch wirkt, der Morgen noch frisch, die Welt noch unbeeindruckt von Hektik, Staub und Lärm der Tage ist. Es sind diese Augenblicke, in denen sich die Gedanken am besten ordnen lassen, diese Augenblicke, in denen die Worte, die man schreibt und spricht, am ehesten Sinn zu ergeben scheinen. Und manchmal gilt es nur, diese Augenblicke zu nutzen. Die Momente, in denen man über den Schatten springen und die Worte für das "Gute" finden kann, ohne der abergläubigen Furcht zu erliegen, es könnte damit flüchtig sein. Die Momente, in denen man Worte für das Dunkle finden kann ohne diesselbe Furcht, Dinge könnten allein durch Formulieren und Aufschreiben noch realer werden, als sie es ohnehin schon sind. Ein merkwürdiges Gefühl, immer noch ungewohnt, befremdlich, zutiefst unsicher und beängstigend. Und so wird dann doch die Musik lauter, um die Nachrichtenstimme in Nachbars Räumen hinter den Wänden zu übertönen. Das Fenster darf eine Kerze haben. Es ist Abend, der Gegenteil der leichten Zeit des Tages, der Moment darf zur Ruhe kommen, Woche, Monat, Jahr ziehen weiter. Also hoffen wir... . Passt auf Euch und die Euren auf.