Wolkentreiben
Spätsommer in der Stadt. Wolken, Sonne, warme Tage. Dazwischen windige, kalte Tage. Kastanien und Pflaumenkuchen. Fallende Blätter, der erste neblige Morgen. Ernte der restlichen Früchte unserer Furche. Weit mehr als gedacht, mit vergleichsweise wenig Aufwand. Weit weniger, als für einen Winter und anschließendes Frühjahr notwendig wäre. Noch viel mehr Respekt vor den Landwirten wegen der Mengen an Menschen, die sie zu ernähren imstande sind. Als Letztes stehen noch die Sonnenblumen, bevor das leere Feld gepflügt wird. Staubiger Wind an Nachmittagen mit tiefer Sonne. Das Jahr schreitet voran.
Touren durch die Stadt. Mit der Praktica, seit Jahren wieder einmal. Anderthalb Filme gefüllt und zum Entwickeln gegeben. Selbst zu entwickeln ist keine Option, weil Platz für die Ausrüstung und Arbeit fehlt und keine Lust auf die damit verbundene Chemie vorhanden ist. Keine Abzüge, sondern CD-ROM mit Bildern. CD-ROM? Erst einmal Lesegerät suchen und überlegen, ob das Scannen der Negative nicht der schnellere Weg ist. Nächstes Mal vielleicht gleich so. Oder ein anderes Labor. Es bleibt grundsätzliche Zerrissenheit bezüglich analoger Fotografie. Wunderbar der Moment, nach Jahren einen belichteten Film in einer Kamera zu finden und die Bilder zu sehen, die dort liegengeblieben sind. Und die “alten” Objektive sind nach wie vor faszinierend. Auf der anderen Seite stehen deutlich weniger Möglichkeit zum Experimentieren und in jeder Hinsicht mehr Aufwand, Handwerk wird wichtiger als das eigentliche Bild. Einige Resultate liegen trotzdem bei Flickr.
Premiere im späten September: Erste Fahrt auf einem Miet-Rad in Dresden. Keine Verkehrswende für mich, weil ich sonst in der Stadt ohnehin kaum Auto fahre (und das Privileg habe, alle notwendigen Orte in unter 60min sogar fußläufig zu erreichen). Funktionierte recht gut, wenn man vom klapprigen Gesamtbild des Fahrzeugs und mehreren gescheiterten Versuchen bei Entsperren und Abstellen absieht. Funktioniert aber eben auch nur in der Stadt, mit hinreichend vielen Menschen und ausreichend gutem Mobilfunknetz, man möchte darauf nicht wirklich angewiesen sein. Viele kleine Dinge, die Spaltung und Gefälle erzeugen, Konfliktpotential vergrößern, gemeinsame Lösungen dringlicher Probleme erschweren.
Tonspur zum Monat: Wenzel in Leipzig. Musik außerhalb meiner eigentlichen Kernkompetenz, aber trotzdem ergreifend, intensiv. Einer der wenigen deutschsprachigen Musiker, der schwere politische Songs vortragen kann direkt neben nachdenklichen, nach innen gewandten Texten und Lyrik purer Lebensfreude, ohne dabei Glaubwürdigkeit und Authentizität zu verlieren. Poesie, Prosa als Umgang des Träumers mit einer immer chaotischeren, bedrohlicheren Welt? Trotzdem, oder vielleicht auch wegen? Konzerte in meinen Kern-Genres fehlen, und die Idee, wieder Mixtapes zu fertigen, ist bislang auch nicht wirklich weitergekommen. Ansonsten herbstlichere Klänge im Player: Wolves In The Throne Room, Ultar, Ambient von Black Mara. Chelsea Wolfe, die Beeindruckende. “Birth Of Violence“, fesselnd, warm und dunkel. Wunderbare Begleitung für kürzer werdende Tage.
Wiederaufgenommene Traditionen nach warmer Sommerpause: Zeit in der Küche. Indisch kochen, eigenen Paneer zubereiten. Brot backen. Wirtschaftlich ist all das nicht, aber es macht Spaß. Auch andersherum: Es macht Spaß, aber es ist mitnichten wirtschaftlich. Aber es ist schön. Mindestens in der Wahrnehmung, mit Zeit und Liebe zum Detail Dinge für sich zu tun, und für Menschen, die einem wichtig sind und dergleichen zu schätzen wissen.
Ansonsten: Verschiedene Jahrestage, u.a. auch 9/11. Achtzehn Jahre. Kinder von damals sind heute volljährig, das ist beeindruckender als manch anderes Detail. Vieles ist seitdem älter und erwachsener geworden. Damals: Urlaub im Süden. Zeitschriften aus Papier. Nachrichten aus TV und Radio. Klobige Motorola-Smartphones mit kleinen Displays sündhaft teurem Tarif für SMS oder gar Gespräche. Internet nur über Modem, zu Hause und nur für E-Mail und manchmal Web. Langsamere Medien, eine Zeit vor Newstickern, Push-Notifications, sozialen Netzwerken mit lauten und unverifizierten Quellen. Beginn einer Zeit von politischen und kulturellen Schieflagen weltweit. Oder vielleicht auch nur Beginn einer Zeit, in der diese Dinge deutlich mehr und intensiver sichtbar werden…
Apropos sichtbare Schieflagen: Politische Diskussionen nerven (mich zunehmend). Es ist eh schon schwierig genug, mit Menschen anderer Meinung zu streiten, weil die Diskurskultur kaputt ist. Wenn man denjenigen, denen man inhaltlich zustimmt, trotzdem nicht zustimmen kann, weil sie in Stil und Form danebenliegen und als überhebliche, belehrende, besserwissende Klugscheißer (platt gesprochen) auftreten, dann wird es noch schwieriger. In vielen Diskussionen ist zurzeit zu viel Wut, zu viel Manipulation, auch durch bewußte Emotionalisierung. Dazu überhaupt keine Kultur im Umgang mit Kritik, die scheinbar beständig als “alles-oder-nichts” wahrgenommen wird – wer nicht dafür ist, ist dagegen. Wer nicht ausdrücklich und ohne jegliche Zweifel dafür ist, ist erbitterter Gegner. Irgendwann läßt man es dann. Oder geht es andersherum an: Vielleicht lagen jene meiner Kontakte von “damals” doch richtig, die sich grundsätzlich dagegen verwahrt haben, digitale Kanäle für Politik verwenden zu wollen. Vielleicht passt das einfach nicht.
In dieser Kategorie: Richard Stallman tritt von seinen verschiedenen Posten zurück. Ein wüster und sinnloser Streit folgt, begleitet von Verschwörungs-Ideen, Zensurvorwürfen und gegenseitigen Beleidigungen. Einerseits schwierig, wenn man mit Stallman für Freie Software sozialisiert und in gewisser Weise “groß” geworden ist, über ihn Ideen wie “GNU” oder “Software Libre” zu verstehen und schätzen gelernt hat. Andererseits sollten Ideale und Ideen nicht so stark an Individuen hängen, wie hier wohl der Fall. Es gibt eine Welt außerhalb von Software, es gibt ein Benehmen dort, und manches an Benehmen dort läßt sich einfach nicht rechtfertigen oder verteidigen. (Und vielleicht müssten “wir” als Befürworter, Verfechter von Software Libre nachdenken, ob unsere Ziele und Freiheiten in 2019 wirklich noch die vorrangigsten Probleme der Digitalisierung lösen – aber das ist wohl ein anderes Thema.)
Sonst noch: Jede Menge Selbstreflektion. Wie üblich. Nebenprojekte suchen, persönliche Ziele überdenken. Viel zu viele interessante Themen auf dem Schirm, der Lesestapel wächst, aber neben Zeit fehlt die Motivation: Bei nur allzu vielen Themen scheint es mittelfristig sinnlos, sich in Tiefe damit auseinanderzusetzen… Vorbereitungen für das nächste Jahr: Technische Planungen. Irgendwann dafür auch finanzielle Planungen. Urlaubsplanung. Arbeitstaktung entlang von Sprints im Zwei-Wochen-Rhythmus mit viel Vorlauf sorgt dafür, daß die Zeit noch schneller verfliegt. Halbwegs regelmäßiger Sport wieder, donnerstags, als Fixpunkt. Bewegungen an der Grenze körperlicher Möglichkeiten nach langen Arbeitstagen. Tagesschnipsel im Fediverse und auf Twitter, viele gesammelte Momentaufnahmen. Viel Beobachtung, wenig sinnvolle Schlüsse. Aber etwas mehr Gelassenheit – vielleicht kommt es auf das “wofür” oder “warum” manchmal gar nicht an?
Imposter-Syndrom. Neil Gaimans Artikel zu diesem Thema ist auf meiner Leseliste aufgetaucht. Das Gefühl des Hochstaplers und Nichtskönners durch fast dauerhafte Beschäftigung mit Routine und ansonsten chronische fachliche Unterforderung, während man gleichzeitig von denen umgeben ist, die zunehmend spezialisiert interessante und anspruchsvolle Themen bearbeiten dürfen? Vielleicht auch eine andere Baustelle, wer weiß. Vielleicht sollte ich auch mehr und andere Bücher lesen. Herbstliteratur. Rainer Maria Rilke passt immer, aber in dieser Jahreszeit besonders gut:
Wind aus dem Mond,
(R.M. Rilke)
plötzlich ergriffene Bäume
und ein tastend fallendes Blatt.
Durch die Zwischenräume
der schwachen Laternen
drängt die schwarze Landschaft der Fernen
in die unentschlossene Stadt.
Vielleicht ist es auch eine Kunst, Aufgabe, Dinge versöhnlich mit sich und der Welt zu sehen. Die Septembernotizen waren kürzer als in den letzten Monaten. Ich habe mehr Stichpunkte während der Wochen gesammelt und wollte die dann gar nicht weiter ausformulieren, weil an vielen Stellen noch Schmuckwerk und Verzierung hätten beigebracht werden können, aber kein wirklicher Inhalt. Ich meide das böse, zunehmend abgegriffene M-Wort und schaue, ob es sich gut anfühlt.. damit auf in den Oktober. 😉️