Wolken und Muster
Aufholen, Wochen später. Ein Flug durch die eigenen Bilder, um sich die verstrichene Zeit nochmal zu vergegenwärtigen. Wintermärz, Winterapril, Winterjackenwochen. Später Schnee, lange kalte Tage, ein langes Ringen des Jahres mit dem andauernden trüben Grau. Zeiten, in denen der Unterschied zwischen Himmel und Wiesen nur eine Frage von Helligkeit, nicht von Farbe zu sein scheint. Immer wieder dunkle Vögel über dem Viertel, in verhaltenem oder starkem Wind vor Wolken verschiedener Struktur und Coleur. Eine Zeit, so lang, dass selbst die ersten verhaltenen Frühblüher in Schnee und Matsch spürbare Erleichterung bringen, bevor irgendwann, aufgeheizt und klar, Frühling und Sommer zugleich losbrechen, die Obstbäume voller Blüten hängen, die eigene Scholle reine Farbe ist, sich an sattgrünen Ufern Menschen ebenso in der Abendsonne tummeln wie die zurückkehrenden ersten Schwalben. Abschluss eines langen Winters, auch wenn die sonnigen Tage noch vorübergehend bleiben werden. Mentaler Abschluss.
In mancher Hinsicht können helle Tage nicht schaden im zweiten Jahr der neuen Zeit. Vieles ist gleich geblieben: Der tägliche Blick auf die Zahlen, Sorge um liebe Menschen, bange Blicke in Richtung einer schwer zu greifenden Zukunft. Immer noch Arbeit im Heimbüro, nach mit wenig Unterbrechungen fast einem Jahr. Immer noch wenig Kontakte, immer noch angeordnete, empfohlene, freiwillige Isolation. Immer noch der Luxus, vom heimischen Schreibtisch aus mit angenehmen Kollegen an inspirierenden Projekten arbeiten zu können, zumindest in dieser Hinsicht kaum Einschränkungen ertragen zu müssen (sieht man von ausschließlich digitaler Kommunikation und dem Fehlen der Unterhaltung zwischen den Türen und in der Kaffeeküche ab). Aber trotzdem fühlt sich das Jahr anders an, belastender. Damals, vor und im ersten Lockdown, schien die Welt veränderbar, schienen unter dem Schrecken der allgemeinen Lage Entwicklungen möglich, die unter normalen Umständen niemand zu denken wagte. Plötzlich wurde von “systemrelevanten” Berufen gesprochen, wurde überarbeiteten Pflegekräften applaudiert, als Geste von Respekt oder Hilflosigkeit oder nurmehr dem Versuch, Zusammenhalt zu üben und zu zeigen in Umständen, die alle überforderten. Plötzlich wurde darüber diskutiert, wieso Menschen, die unter harten Bedingungen Knochenarbeit leisten und jetzt durch Direktkontakt zusätzlich und unmittelbar gefährdet sind, nicht zumindest eine angemessene wirtschaftliche Vergütung, mehr Wahrnehmung, mehr Respekt erfahren. Plötzlich haben die Menschen in den Städten zusammen auf den Balkonen musiziert, die Menschen in meiner erzgebirgischen Heimat im ausklingenden Winter ihre Weihnachtsbeleuchtung in die Fenster gestellt, um sich gegenseitig Licht in diese Tage zu bringen, während alle auf Blindflug navigieren durch ein Situation, die das Wort “Komfortzone” weit ins Unerreichbare schiebt. Das Gefühl dieses Frühjahrs 2020, vielleicht für ein paar Wochen, war ein hoffnungsvoll-naives “wir schaffen das”. Wie naiv diese Annahme war, spürt man schmerzhaft, wenn man ein Jahr später auf den unerbittlichen Zank, die Streitereien, den völlig verwahrlosten Ton blickt, in dem mittlerweile auf allen Ebenen der Gesellschaft über Ziele und Prioritäten gestritten wird. Ein Jahr später lastet die Zeit, die Spaltung, die Unentschlossenheit und gnadenlose Unversöhnlichkeit schwer auf den Momenten. An vielen Stellen, viel zu oft, bleibt: Zuschauen, Zuhören, Sprachlosigkeit spüren. Und irgendwie Hoffnung bewahren inmitten des Geschreis. Irgendjemandem nutzt die Polarisierung. Allen anderen schadet sie erheblich.
Von wegen staunender Sprachlosigkeit, auf einem anderen Niveau, viel banaler: Die Wintermonate markierten dem Abschied vom alten Kombi, nach über zehn Jahren und fast 200.000km gemeinsamen Weges. Eine Tonne Stahl, Blech und Kunststoff – und 100g kaputte Elektronik. Ungünstige Bilanz. Es gibt Entscheidungen, die man aufzuschieben versucht, aus verschiedenen Gründen, und seien es die Erinnerung an Reisen, an vergangene eigene Zeit in jedem Sandkorn im Kofferraum. Man denkt über Nachhaltigkeit nach, den Anspruch, Dinge im Zweifel lieber zu reparieren und lang zu betreiben. Und es gibt Momente, in denen einem schnell vor Augen geführt wird, wie privilegiert die Möglichkeit ist, ausschließlich in städtischem Raum mit Fahrrad, Bus und Bahn “umweltfreundlich” unterwegs sein zu können. Es gibt Momente, in denen man erlebt, wie Mobilitätsanforderungen plötzlich wieder untrennbar werden vom eigenen verbrennergetriebenen Pkw. Man erlebt, wie unerreichbar fern Elektromobilität dann immer noch ist – beginnend schlicht bei verfügbarem Budget und endend bei fehlender Praktikabilität, bei fehlender Lade-Infrastruktur im oder nahe des städtischen Reihenhauses mit Zufallsparkplatz an der Straße, bei fehlender Reichweite. Und man erlebt das segensreiche Wirken der eigenen Branche bitter aus einer ganz anderen Perspektive: Wenn ein Fahrzeug nach 15 Jahren noch mechanisch intakt und pflegbar, wenn einzige Ursache für den finalen Defekt letztlich eine elektronische Steuerkomponente wird, die gleichermaßen irreparabel und nach den Jahren für den Typ auch nicht mehr neu beschaffbar ist, dann hat man plötzlich Bilder von Bergen alter Smartphones und Laptops mit eingeklebten Akkus und hermetisch abgeriegelten Gehäusen vor Augen, mit überalterter, nicht aktualisierbarer Software und der einzigen Chance, sie im Schadenfall zu ersetzen. Dann legt man das gedanklich neben E-Autos mit einem noch viel höheren Anteil essentieller Elektronik und hat plötzlich viel mehr Fragen als Antworten. Werden E-Autos auch Lebenszeiten von 15..20 Jahren schaffen, oder noch länger, entlang der Zeiten, die solide Mechanik schafft? Wer wird die Software, die Elektronik dort drin pflegen und warten wollen, während wir mehrheitlich gewohnt sind, unsere anderen elektronischen Geräte alle 3..5 Jahre technisch oder moralisch verschlissen zu entsorgen? Wer wird die Dinge reparieren, wenn wir noch viel mehr abgeschlossene schwarze Kästen, noch viel weniger wirklich zugängliche, offene Technik in unserer Mobilität haben? Consumer-Elektronik ohne “right to repair” ist eine Sünde an den zukünftigen Generationen. E-Mobilität ohne “right to repair” hat das Potential, diesen disaströsen Zustand wohl noch zu verschärfen. Vielleicht ist der Pessimissmus der individuellen Situation anzulasten und nicht angebracht, aber zumindest Skepsis bleibt.
Wie dem auch sei. An anderen, weniger tiefgreifenden Veränderungen bleibt das Wegfallen der Zahlen zu berichten. Wer meine Bilder bei Flickr oder an anderen Stellen im Netz beobachtet hat, dem ist nicht entgangen: ich habe über die letzten zwei Jahre versucht, regelmäßig ein “Bild des Tages” dort hin zu werfen, aufsteigend numeriert an einem bestimmten Tag beginnend bzw. überschlagend. Es war spannend, gezielt jeden Tag ein Bild dafür haben zu müssen, aber irgendwann hat es aufgehört, sich gut oder inspirierend anzufühlen. Irgendwann habe ich mich dabei ertappt, Bilder per Werkzeug umzudatieren, um Tage zu überbrücken, an denen der öffentliche Moment, die Stimmung für jenes Foto gefehlt hat. Irgendwann waren die Unterschriften mit Nummer und kurzem Titel ein merkwürdiger Bruch in sonstigen Verläufen, der keinen richtigen Sinn mehr zu ergeben schien. Das Weglassen der Nummern … entspannt die Dinge. Es kommt nicht mehr darauf an, ob das Jahr 365 oder 350 Bilder hat. Es kommt nicht mehr darauf an, dass jeder Tag ein Bild hat. Der Verzicht auf den Ritus öffnet neue Möglichkeiten. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es ist und bleibt ein Probieren, wie auch das Schreiben hier auf dem Blog. Meine Vorsätze, regelmäßig kürzere Dinge zu “Papier”(…) zu bringen, existieren immer noch, ebenso der Versuch, Gedanken unterwegs besser am Fliehen zu hindern. Bislang ist es bei Vorsätzen und Versuch geblieben. Zumindest fühlt es sich nicht störend oder belastend an, aber viel Textschnipsel, viel Kommunikation laufen dieser Tage andernorts, und manchmal frage ich mich, ob die Idee, als reiner Hobbyist vollständig ziel- und zwecklos das Internet zu beschriften, dafür eigene Software zu administrieren und eine Handvoll Leser mit langen, verqueren Sätzen zu ärgern, jenseits persönlichen Festhaltens noch irgendeine Bedeutung hat. Zumindest sollte ich wohl wieder einmal aufräumen oder die Spuren der Experimente in diesen Seiten sortieren. Es ist wohl dies Jahr noch nicht zu spät für den Frühjahrsputz.
Zu den Dingen, die auch in 2021 Bedeutung haben, zählt unverändert Musik und der #bandcampfriday. Immer noch versuche ich, Musiker in Corona-Zeiten zu unterstützen durch Kauf von Musik an diesem einen Freitag im Monat, an dem bandcamp.com seine Gebühren streicht, wissend, dass das keine Dauerlösung sein wird. Aber vielleicht hilft es ein wenig, und es bleibt zumindest immer interessante neue Musik, manchmal sogar Kontakt mit interessanten Menschen dahinter. Aktuelle Entdeckungen, die einen näheren Blick verdienen: Bestial Mouths aus Berlin balancieren zwischen theatralischem Gothic, Elektronik und Industrial, legen über die Musik Videos voller düsterer Ästhetik und mehr oder weniger offenkundiger Symbolik, erfassen einen, bleiben intensiv präsent. Weniger elektronisch, anders düster treten Blackmole aus St. Petersburg auf: Apathischer Jazz Noir, spärlich instrumentiert, knackend und kratzend, Soundtrack für imaginäre Schwarz-Weiß-Filme mit Winternächten, Totalen von halbleeren Weingläsern und Zigaretten, die in vollen Aschenbechern vor sich hin rauchen. Chernikovskaya Hata sind noch weiter östlich beheimatet, spielen Post Punk mit russischen Texten. Musik in der Stimmung der merkwürdigen Zeit am frühen Morgen, wenn Schlaf keinen Raum mehr hat, der Tag aber noch nicht beginnen möchte. Musik für leere Parkplätze kurz vor der Morgendämmerung, in der das Kunstlicht noch gewinnt.
Musik ist allgegenwärtig im Moment, trägt viele Gedanken, erfüllt im Home-Office die Zeit, in der keine Telefonate oder Konferenzen anstehen. Ein unerhörter, unglaublich angenehmer Luxus in einer vollen Zeit. Die Liste an anspruchsvollen Aufgaben ist zum Glück unverändert lang, die Terminketten ehrgeizig, der Wissenszuwachs in jeder Woche nach wie vor enorm, aber ebenso die Möglichkeit, Dinge zu tun, zu schaffen, fertigzubekommen. Es fehlen persönliche Kontakte. Die rein digitale Verabschiedung von Kollegen, die anderen Herausforderungen nachgehen, fühlt sich fremd an. Schulungen mit Kunden rein digital sind anderes, anstrengender, ermüdender als ähnliche Programme und Tage “hands-on” gemeinsam am Computer – im Versuch, Dinge durchzuspielen, statt sie nur zu erklären. Entlang all dessen ändert sich nichts an den bekannten Einsichten: Im Heimbüro vergehen die Tage noch schneller. Und unveränderte Herausforderung Abgrenzung – wer immer im Büro ist, ist immer zu Hause. Oder andersherum? Der Garten als wirklicher örtlicher Bruch wird erst langsam wieder eine Möglichkeit in diesem kühlen Frühjahr. Man sucht kleine Fluchten, fährt das (nunmehr neue) Fahrzeug wieder in Landstriche in der Nähe, wandert für ein paar Augenblicke entlang an künstlichen Seen, fährt über Plattenbeton durch Mondlandschaften, in denen niedriges Grün wuchert, so weit das Auge reicht. Es wären Gegenden, die nach Ferienlager, vergangenen Sommern und Erinnerungen duften würden, wäre es wärmer und später im Jahr. Aber es sind auch andere Bilder, die durch diese Tage tragen.
Für den Moment geht ein weiterer Tag vorüber, über dem Viertel liegt wieder kühl-nasse Dunkelheit und der Duft von Regen. Das Intermezzo des Sommers, in den zurückliegenden Tagen, war schön, aber kurz, kurz, aber schön. Auch daraus sind andere Bilder hängengeblieben, mit der Versprechung, dass wir mittlerweile Mai schreiben, näher am Sommer als am Winter sind. Und dass es auch nicht schlecht ist, bis dahin den Regen im Dunklen wahrzunehmen, den Klang der Tropfen zu hören, das andere Rauschen über der Stadt zu genießen. Mehr Bilder. Hier und überall. Auch in den nächsten Wochen. Bis dahin … danke fürs Lesen, haltet Euch wacker! 😉