Wintergrau mit Sonne
Der erste Monat des Jahres liegt hinter uns. Er begann unterkühlt, mit über mehrere Tage defekter Heizungsanlage, kalter Wohnung, kaltem Wasser. Man heizt notdürftig elektrisch, flieht früh ins Bett. Lernt die kleinen Alltäglichkeiten wieder zu schätzen – und gleichermaßen das Dilemma des Stadtmenschen verstehen, dem in diesem Fall eben nicht einfach der Griff zurück zum altbewährten Holzofen bleibt. Ein Thema für sich, glücklicherweise doch nicht lang andauernd. Diskussionen des frühen Jahres, ob 2020 nun schon zum neuen oder noch zum alten Jahrzehnt gehört, sind ebenso schnell wieder in der Irrelevanz versandet, in die sie gehören; ihre Fortsetzung ist bislang genau so ausgeblieben wie richtiger Winter. Kein Schnee, wenige frostige Tage, viel Herbst- und Wintergrau. Viel Wind. Fliehende, hohe Wolken in verschieden dunklen Schattierungen von Grau, durchbrochen von Phasen blauen Himmels. Im zweiten Obergeschoss nimmt man es mehr wahr, wenn der Sturm die Bäume vor den Fenstern hin zur Elbe biegt und die Passanten mühsam ihren Weg vom Bahnhof über die Straße finden, wenn die dann wenigen verbliebenden Radfahrer gegen den Wind ankämpfen und Laub und Papier über die Verkehrsflächen treiben.
Infrastruktur ist allgegenwärtig aus dieser Perspektive: Flugzeuge, die den Weg vom oder zum Dresdner Terminal nehmen – am Rande der Wahrnehmung, rechts oben im Fenster. Schwere Güter- und Containerzüge. Straßenbahnen, S-Bahnen und ein nie enden wollender Strom von Autos und Radfahrern. Dazwischen Menschen, gelegentlich. Die Schienen gegenüber sind rostig, an den Fassaden der verfallenen Altbauten stehen seit neuestem Gerüste. Das breite, helle Blechdach dazwischen verändert das Licht zwischen den Häusern mit dem Wetter, reflektiert die ersten und letzten Sonnenstrahlen, bringt an regnerischen Tagen nassen Glanz in das Trübe. In manchen hektischen Momenten bringt es eine gewisse Ruhe, durch das Fenster nur die Stadt in ihrem Tag zu beobachten, den Gedanken die Chance geben, sich neu zu ordnen, im Kleinen wie im Großen.
Immer noch früh im Jahr. Im Laufe des Monats haben die Weihnachtsbäume ihren Weg aus den Wohnungen gefunden…. viele auf die städtischen Sammelplätze, auf große, grüne, stachelige Haufen. Andere, fein säuberlich zerkleinert, in Äste und Stamm getrennt, sind in den Biotonnen im Hinterhof gelandet, oder auf dem Stapel an Holz für die Feuerschale in lauen Sommernächten (in diesen Momenten erinnert man sich daran, wie gut eine ausgetrocknete Tanne brennt). Über die letzten von ihnen stolpert man noch dieser Tage, immer wieder, immer noch, an den ungewöhnlichsten Stellen: Mitten auf einem der wenigen Plätze im Viertel, quer über den Fußweg, wie vom Handwagen gefallen. Oder an dem Durchgang zwischen den Häusern – halb mit einer gelben Einkaufstüte überzogen und mit breitem braunen Klebeband sorgsam auf Pfahldicke zusammengeschnürt. Welche Hobbies haben die Nachbarn eigentlich, um Gottes Willen? Keine Bäume mehr bis Lichtmess; die Blumenläden verkaufen Tulpen, der Einzelhandel stimmt sich auf die nächsten Wegmarken im Jahresverlauf ein – Valentinstag und Ostern und im Garten zeigen sich Winterlinge und vorsichtige erste Frühblüher. Die Tage werden wieder länger, man hat wieder die Chance, das Büro bei Lichte zu verlassen, und dann und wann durchstreift die Sonne das trübe Wetter und gibt eine wohltuende Vorahnung von wärmeren, helleren Monaten.
In Vorschau auf den Frühling habe ich wieder etwas Ordnung geschaffen. Rolle zurück im Versuch, mit Android und Linux Tagebuch zu führen. Das gegenwärtige Werkzeug der Wahl ist jetzt wieder Nextcloud Notes (das in den letzten Versionen spürbare Fortschritte gemacht hat. aber für diesen Use Case immer noch schlecht ist), auf dem Server / Desktop wie auch auf dem Mobilgerät. Der Prozess, einen Editor und ein separates Werkzeug zur Synchronisation zu haben, hat sich als zwar praktikabel, aber nervig und unhandlich erwiesen, und “richtige” Lösungen für diesen Anwendungsfall scheint es zumindest außerhalb geschlossener Cloud-Anbieter nicht zu geben. Die guten Tools, die ich hierfür zwischenzeitlich getestet habe, waren entweder ausschließlich für den Einsatz auf dem Mobilgerät vorgesehen oder mit “Backup” auf die Server von Google oder Dropbox bestückt oder geschlossene Dienste, bei denen man seine Daten mutmaßlich irgendjemandem anvertraut ohne eine Chance, die jemals auch nur exportiert, geschweige denn gelöscht zu bekommen. Vielleicht gibt es auch tatsächlich nichts anderes im Moment, und meine Herangehensweise ist schlicht “falsch” und unsinnig, vielleicht muss ich mir einen anderen Prozess überlegen. Wer weiß.
Vielleicht probiere ich das irgendwann noch mal mit selbstgehostetem WordPress und der zugehörigen App, aber zurzeit ist mir das nicht wichtig genug und die Möglichkeit, die Notizen notfalls auch mit einem Text-Editor bearbeiten zu können, ein großes Plus. Auf dem Laptop bin ich nach zwei Wochen mit Ubuntu/GNOME wieder zurück zu elementary gewechselt. Darüber sollte ich irgendwann separat schreiben, aus technischen Erwägungen und all das. Immer wieder fühlt sich elementary wie der “bessere” GNOME an, der Desktop, der neben Usability auch ein klares, sauberes, durchdachtes Design kann, der versteht, warum Schriften, Symbole, Farben wichtig sind. Vielleicht ist das sehr subjektiv, aber nach wie vor bleibt für mich der Desktop von elementary, geradlinig, klar, ansprechend, eine der wenigen Oberflächen, die man auch auf einem dienstlichen Rechner, in Kontakt mit Partnern oder Kunden, nutzen und zeigen kann.
Und, immer und immer wieder: elementary geht mit App-Center und bezahltem Download eines der größten Probleme an, das ich derzeit in der technischen Welt hier wie dort sehe: Es gibt einen Kreis von Leuten, der auf die Wichtigkeit von “Software Libre” hinweist und in diesem Rahmen betont, dass “libre” wichtiger als “gratis” ist. Sicher. Zweifelsohne. Nur: Momentan ist die Tatsache, dass diese Software meist auch “gratis” ist, in vielen Fällen der erste und in den meisten Fällen auch dauerhaft der einzige Vorteil, den “Software Libre” für den Endnutzer hat. Facebook, Google, … auf der anderen Seite sind auch “gratis”, aber mit Sicherheit alles andere als “libre” und in mancher Hinsicht schwierig, jenseits solcher Themen wie Manipulation, Privatsphäre oder Hassrede. Auf Seiten tatsächlicher “Software Libre” sehen wir dann: Mozilla und damit auch der Firefox-Browser oder der Mail-Client Thunderbird, verlassen sich in nennenswertem Umfang auf Werbe-Einnahmen aus einem entsprechenden Deal mit Google, die auch beispielsweise in der GNOME Foundation oder der FSFE als Spender auftreten. Ob das im Einzelfall gut, schlecht, problematisch ist, lässt sich sicher beliebig lang diskutieren – auf jeden Fall aber wird es genau dann nicht helfen, wenn das Ziel darin besteht, “Software Libre” zu propagieren als einen Ansatz, Technologie frei von den Abhängigkeiten von Interessen einzelner großer Hersteller zu halten und verfügbar zu machen. Vielleicht sollten wir endlich an den Punkt der Einsicht kommen, dass nicht nur “libre” besser und wichtiger ist als “gratis”, sondern dass sich “libre” und “gratis” unter Umständen in größerem Stil ausschließen und “libre” nachhaltige und unabhängige Finanzierung benötigt. Damit sind wir wieder bei elementary und ihrem Ansatz, und mindestens deswegen ist das Projekt unterstützenswert.
Der Januar hat wenig neue eigene Musik. Ritual Howls aus Detroit wären dort im Wesentlichen zu nennen, die meine gegenwärtige Begeisterung für post-punkige Klänge füttern. Ansonsten bin ich, wieder einmal, in all den Dingen hängen geblieben, in die Zoe Zanias musikalisch in den letzten Jahren involviert war – Keluar, Linea Aspera, ihre Solo-Arbeiten und diverse Remixes und Sampler-Beiträge. Musik, die ich irgendwann um diese Jahreszeit einmal entdeckt und schätzen gelernt habe und die nach wie vor wunderbar funktioniert in den Tagen, in denen viel Leben außerhalb des Büros an der Grenze zwischen Tag und Nacht passiert.
Ansonsten das Übliche: Viel Zufallswiedergabe. Viele Podcasts, zur Abwechslung auch wieder einmal zu Linux- und SoftwareLibre-Themen (hier konkret “Linux For Everyone” und “Late Nite Linux”). Ein bisschen Technologie, ein wenig Philosophie, und dazwischen Design mit 99 Percent Invisible. Oft auch Stille, unterwegs, aus fehlender Stimmung für Musik oder Ton im Ohr. Daneben habe mich an schlechte Video-Spiele erinnert, habe gute wie Indiana Jones und Monkey Island auf dem Android-Tablet in der ScummVM angespielt, an der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit einige Stunden mit Scripting in Python und Groovy zugebracht. Und ich war seit langer Zeit wieder einmal mit meinen ehemaligen Studienkollegen des Nachts unterwegs, für Gespräche, Bier und Wein. Man lernt, einmal mehr, dass man in der Quasi-Stammkneipe nicht mehr einfach ankommen kann, sondern vorher reservieren will. Und man lernt, dass es trotz der Lautstärke und des Trubels jenseits 22:45 ganz plötzlich mit einem Schlag still und fast leer wird. Und dann wandert man irgendwann nach Mitternacht gemeinsam über den Fluss, spürt die quasi neue Brücke unter den Füßen, wischt für den Moment durch ewig alte Fotos, die aus unerkannten Gründen noch immer auf dem Mobiltelefon verblieben sind… Es hat sich viel verändert, auch hier. Sowohl in der Technik, die die Augenblicke festhält, als auch in der Stimmung der Augenblicke selbst, auf der restaurierten, mit neuen Lichtern versehenen Flussquerung, so ganz ohne Nebel in dieser milden Winternacht. Vielleicht brauchen Städte einfach Flüsse und alte Brücken, um Identität und Seele zu wahren. Wer weiß.
Januar war ein langer, gleichermaßen aber ereignisreicher und damit schnell verstrichener Monat. Ein Monat, der nahezu ausschließlich in Dresden vergangen ist. Januar war ein Monat der inneren Unruhe und Schlafstörungen, ein Monat des Ringens mit der eigenen negativen Selbstprogrammierung und mannigfaltigen Ängsten, aber auch in gewisser Weise ein Monat des Handelns, der veränderten Sichtweise. Nicht alles davon ist dokumentationswürdig, nicht alles davon gehört in die Öffentlichkeit. Manches gar nicht, manches zumindest noch nicht…