Herbstwolken und goldenes Laub.
Wieder einmal Innehalten entlang des Jahres. Es ist ein gewohntes Gefühl: Kopf aus dem Jahr erheben, den Fahrtwind spüren, erfolglos herauszufinden versuchen, wohin die Zeit verstrich seit den Stunden, an denen der Silvesterkater langsam seiner Wege zog und die ersten Stunden des ersten Tages des Januars im Winterlicht erschienen. Es sind Tage selteneren Innehaltens, Tage höherer Frequenz in allem, auch Tage größerer Dunkelheit in den Dingen, die Wind und Zeit vorübertreiben. Viel zu viele Fragmente haben sich angesammelt in der Ablage, und eigentlich habe ich längst die Absicht, daraus ein schlüssiges Ganzes formen zu können, fahren lassen. Die meisten kurzen Momente dieser Tage, die meisten unwichtigen Gedanken und Bilder, stolpern derzeit wieder und wieder durch meine Präsenz auf loma.ml in die Welt. Vielleicht sind kurze Schnipsel in Zeiten hoher Ereignisdichte ein effektiverer Weg als lange Texte. Vielleicht steht einmal mehr Sinn und Nutzen dieses Blogs überhaupt in Frage, aber so recht kann ich immer noch nicht davon lassen. So bleibt gelegentliches Aufräumen unfertiger Entwürfe und unfertiger Gedanken, in der Hoffnung, dass…. ja, warum eigentlich? Die Antwort auf diese Frage fehlt. Immer noch. Vielleicht ist das auch in Ordnung. (Die folgenden Momente sind ein mäßig sortiertes und gnadenlos unvollständiges Sammelsurium all der Monate, die seit Juli ins Land gegangen sind. Etwas Herbst liegt über allem. Mehr Erklärung dazu gibt es nicht.)
//September// Irgendwo und irgendwann anders mischen sich erste Blätter in den Regen, den der Wind durch die Straße treibt. Weit genug in den Wochen, um nicht mehr von Sommer sprechen zu können. Weit genug in den Wochen, um mitten im Herbst zu sein, gefühlt plötzlich und unvermittelt. Nach einem heißen, trockenen Sommer hat es geregnet, tage- und nächtelang. Und, wie noch kurz an der Grenze zum Welken, ist das graue Braun noch einmal aus dem Garten geflohen, wächst und wuchert alles Grün, das irgendwo zwischen Laube, Beeten und Zaun noch existiert, steht die schüttere Wiese überstrahlt vom Gelb, Orange und Violett der Herbstblumen, die unter fliehenden grauen Wolken sanft im Luftzug schwingen. Immer noch teilen sich Vögel und Brandmäuse die Körner aus Fütterung und Blumen, und der Maulwurf gräbt sich durch die Erde unter den Büschen. Material erodiert, Arbeit sammelt sich. Abriss von Zäunen als Projekt für das nächste Jahr; es gibt ohnehin genug Zäune und Mauern, da ist ein Umfeld gut, in dem alle übereinkommen: Das braucht es hier nicht.
//Oktober// Mittlerweile verklingt die Saison spürbar. Abstellen des Wassers in der Gartenanlage als längst geübtes Ritual, als Auftakt dazu, Lauben und Wege winterfest zu machen. Entsprechend werden auch die Nachmittage im “inneren Außerhalb-Der-Stadt” wieder seltener. Immer noch tut ein Kaffee unter dem Flieder gut, wehen Blumen im Nachmittagswind, aber das Abendlicht bleibt ihnen immer weniger lang erhalten. An einzelnen Stellen tropft Wasser durch das alternde Dach, und der Versuch, grundlegenden und robusten Ersatz zu schaffen, führt einen in die Untiefen deutscher Abfall- und Entsorgungsvorschriften (hier: die Beseitigung von Bauschutt und Dachpappe), die man so nie zu sehen gewünscht hätte. Man lernt: Mutmaßlich wird das Beseitigen des Alten aufwendiger (in Zeit) und teurer als das Schaffen des Neuen, und es bleibt zu hinterfragen, ob und inwieweit das symptomatisch für viele anderen Dinge dieser Tage hier sein könnte. Aber vielleicht bin ich dort zu pessimistisch und zu bitter.
//September// Auch nach dem Sommer bleiben Tage kleiner Momente in einem bewegten Großen, bleiben immer noch, immer wieder Augenblicke im schlechten Gewissen, sich auf Kurzfristiges und Naheliegendes konzentrieren zu dürfen. Das große Ganze deckt die Gänze aller Adjektive ab, die es bis in dunke wache Nächte schaffen: Unerfreulich. Bedrohlich. Unwirklich. Beängstigend. Ein postmoderner Fiebertraum, aus dem man nicht aufwachen und bei dem man auch nicht ruhig schlafen kann. Die Sprache verbittert, die Fronten verhärtet, der Umgang immer rüder. Es ist ein wiederkehrendes Thema, das in den letzten Monaten immer wieder in diese Gedanken tropft und das nicht loszubekommen ist. Der kurzfristige Umgang mit Ängsten vereinfacht die Dinge irgendwann, wenn sich Gewöhnung an die gegenwärtige Schieflage eingestellt hat, wenn sich Gewöhnung eingestellt hat daran, dass beständig immer irgendjemand wegen irgendetwas Unfassbarem, Unglaublichen gegen alle Welt schreit, wenn sich Gewöhnung eingestellt hat, dass differenziertere, differenzierendere Betrachtung weder gewünscht noch in einigen Umgebungen auch nur geduldet ist. Also bleibt man irgendwo dort, wo man ist, nimmt hin, was man nicht ändern kann (also faktisch alles), nimmt hin, dass Meinungen, Perspektiven, Strategien von anderen geprägt werden und in diesem Dunstkreis das Kleine, Wenige, was man vielleicht selbst an Sicht und Kontext beizutragen hätte, letztlich ohne Wirkung oder Bedeutung ist. Vielleicht ist das bei aller Bitterkeit dann wieder eine beruhigende Erkenntnis: Es ist nicht anders, als es je war. Fernsehen, Presse, Radio – oder die Echokammern in den sozialen Medien. Es bleiben Eliten und eine ahnungslose Masse, es bleibt Kommunikation von oben nach unten (im schlimmsten Fall von oben herab), niemals auf Augenhöhe. Es bleibt die immer wieder plakativ vorgetragene Resignation angesichts der Dummheit aller anderen. Es bleibt die große Angst vor dem Moment, an dem jemand auf der Bühne dieser Zeit erscheint, der tatsächlich zuhört, oder zumindest hinreichend glaubhaft versichert, das zu tun. Und es bleibt die Individualisierung von all dem, was das große Ganze nicht richtig eingefangen bekommt. Nach den Jahren der Pandemie ist man Einschränkungen irgendwie gewohnt, diesmal sind sie eben anders. Trockenshampoo statt Dusche. Dicker Pullover statt Heizung im Heimbüro. Dunklere Tage, weniger Licht. Schmerzhaft metaphorisch in diesem Fall.
//September// Dazwischen Reiseferne, ein seltsamer Versuch von Normalität im Chaotischen. Sommer und Nordsee. Watt. Wind. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung und falsches Mindset. Vermutlich. Wenn man auf dem Deich in den Wiesen steht oder die Füße in den nassen Schlamm stellt, bewegt man sich in einer seltsam irrealen Naturweld. Geht man Schritte ins Hinterland, steht man schnell auf Betonflächen, in groß dimensionierten Städten, vor lang geschlossenen Läden, in am Rande der Saison leeren Straßen, und stellt sich unbequeme Fragen über Strukturwandel, strukturschwache Regionen in verschiedenen Teilen des Landes und die Perspektiven, die für die Menschen in diesen Umgebungen bleiben und möglich sind. Blühende Landschaften gibt es wohl nur im hauslosen, unversiegelten Grün.
//Oktober// Spätere Reiseferne nochmal im Herbst: Rom. Ein unwirklicher Trip. Irgendwann, etliche Stunden und Kilometer weiter südlich, steht man inmitten von Jahrtausenden von Geschichte und gleichermaßen einem Leben und Trubel, wie man beides im eigenen Umfeld, in der eigenen Welt eher selten erlebt. Dann sieht man die bis lang in die Nacht vollen Straßen, die Plätze, auf denen die Menschen der Nachbarschaft zusammen sitzen, lachen, trinken, man sieht die ebenfalls irreal wirkenden Menschentrauben, die sich an einigen interessanten Punkten durch die engen Gassen schieben, man läuft einige Stunden durch pralle Sonne und milde, schattige Hinterhöfe und hat das Gefühl, das Stadtzentrum umrundet zu haben. Rückkehr über den Brenner, mit Schnee am Horizont, in eine merklich herbstliche, verregnet-kühle Heimat. Jetlag, ohne geflogen zu sein. Übergangsschwierigkeiten, im Geringeren des Wetters wegen, im Größeren der Lebendigkeit wegen. Und umbequeme Reflektion der eigenen Privilegien und möglicherweise der Blindheit diesen gegenüber. Das übliche Problem – träumerisches Hängen an einem Leben, das man letztlich nur als Außenstehender für eine sehr kurze Zeit ohne den Druck von Existenzsicherung in einem fragilen Alltag erlebt hat. Würde man dort ganzjährig ein geordnetes Leben leben können oder wollen? Oder begeistert einen diese Perspektive nur im Vergleich zu dem, was man hier vermisst (und unter Vernachlässigung dessen, was man hier als völlig selbstverständlich hinnimmt)? Zumindest lohnt es das Nachdenken.
//Oktober// Gleichermaßen Rom als Novum, erster Exkurs ohne “große” Kamera, nur mit Smartphone im Gepäck für Fotos. Gewöhnungsbedürftig, aber es hat funktioniert. Für viele Alltagsfälle hat das gegenwärtige Gerät eine mehr als brauchbare Qualität, und: Es ist eine angenehme Beschränkung auf “wenig”, ein Ausblenden von Dingen, die nur Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit fordern. Irgendwann ertappt man sich dabei, Bilder mit verschiedenen Kameras aus verschiedenen Perspektiven aufzunehmen und mehr Zeit an die Wahl des richtigen Geräts und der richtigen Linse zu verschwenden als an die Wahrnehmung der Welt davor. Man ertappt sich bei dem Ansinnen, möglichst viele verschiedene Objektive und auch noch Stativ und Sonnenblenden mitzunehmen. Man hat weniger Hardware, die aufgeladen sein muss, weniger Hardware, von der es Bilder zu sichern, auf irgendwelchen dauerhaften Medien zu verwahren gilt. Ein klein wenig Befreiung durch Verzicht auf temporären Ballast. Für den Moment war es keine unangenehme Erfahrung…
Andere nicht unangenehme Erfahrungen, Musik dieser Zeiten, aktuelle akustische Leidenschaften: Kaelan Mikla. Keine richtige Neu-Entdeckung. Aber irgendwie bin ich dieser Tage an dem Synth-Trio aus Island länger hängengeblieben als vorher. Kühle Musik, die durch die ungewohnte Sprache noch eine zusätzlich besondere Note bekommt. Elektronik. Melancholie. Eine Kombination, die immer wieder funktioniert, auch wenn sie manchmal widersinnig scheint. Und manchmal sind Werke, die für den Einstieg länger brauchen, auch nicht schlecht. Ansonsten war in diesem Sommer, diesem frühen Herbst viel Klang aus diesem YouTube-Kanal, abgelegt unter “Russian / East European Doomer Music”. Zwischen allen möglichen und unmöglichen Genres hat sich das Verständnis der 2000er von Post-Punk- und Wave-Musik als fester Bestandteil der Playlist etabliert. Davon gibt es in dem Kanal mehr als genug, und er zeigt etwas, was in deutscher und europäischer Wahrnehmung an vielen Stellen verloren geht: Kunst, Kultur, Musik, Kreativität enden nicht an der Oder oder der polnischen Ostgrenze. Musik muss auch nicht zwingend englischsprachig sein, um Stil und Stimmung zu vermitteln. Und: Vielleicht sind Kunst und Kultur das Beste und irgendwann das Einzige, was bleibt, um starre Grenzen zu überwinden und verhärtete Welten zu verbinden. Vielleicht helfen Musik und Bilder dort, wo Worte versagen und Sprachlosigkeit schmerzt. Und vielleicht ist es nur ein An…denken gegen genau diese Sprachlosigkeit und Schwere der Zeit. Für den Herbst dann, lauter und irgendwie die richtige Band zur richtigen Zeit: Aephanemer. Symphonischer, melodischer Death Metal aus Frankreich. Erinnert in vielen Nuancen an nordeuropäische Größen in diesem und angrenzenden Genres. Ein wenig nightwish’sche Catchiness (auch wenn mir persönlich Marion Bascouls Gesangsstil grundsätzlich besser zu dieser Art von Musik passt). Ein paar Blastbeats. Hier und da Bilder und Melodien mit mindestens einem Fuß im Black Metal. Dazu ein wenig Eskapismus, Naturverbundenheit, immer zwei Schritt weg von der Moderne und den Metropolen der Zeit. Sehr viel Heavy Rotation, sehr viele Songs, die hängenbleiben und lang nicht mehr loslassen. Empfehlung für den nächsten #bandcampfriday, der ganz bestimmt kommt.
Mittlerweile ist auch der Oktober schon fast wieder vorüber. Die Sommerzeit endet, es nahen wieder diese Tage, in denen man das Haus früh im Dunklen verlässt, um am Nachmittag (oder spät in der Nacht) im Dunklen zurückzukehren. Im Büro werden die letzten schönen Tage des Jahres genutzt, um Zeit auf der Terrasse zu grillen, soziale Kontakte im halbwegs geschützten Rahmen freier Luft und ausreichenden Windes zu pflegen und kleine Fluchten zu schieben in Stunden, die im üblichen Jahresendspurt hinreichend voll und hektisch sind. Es ist wieder die Zeit von Wind in den Fenstern, die Zeit unzureichender Kleidung, in der man entweder schwitzt oder friert, aber kaum Zwischenzustände kennt. Und manchmal, in den Momenten früher Morgenstunden unter dem Sternenhimmel der Hinterhöfe, klopft vorsichtig Winter an die Tür. Mit ihm bringt auch dies Jahr seine Unsicherheiten. Dunkel, bedrückend, ängstigend. Immer weit mehr, als man davon braucht, manchmal fast zuviel, um es zu tragen. Vielleicht ist das Beste, was im Moment geht, die vom September übrig gebliebene Kastanie am Wegesrand, die weich in der Hand liegt und in der Tasche über die trüben Tage begleitet, hoffend, dass der Frühling wieder freundlichere Bilder bringt. Ich wünsche es uns. Passt auf Euch auf.🙂️