Grau, bunt, hell.
November in Gedankenfetzen und losen Worten. Der elfte Monat des Jahres. Ein später April. Da waren jene Tage, an denen Herbstsonne durch goldene Blätter fällt, Wärme auf der Haut zurücklässt, noch ein wenig Ahnung eines wieder warmen, langen Sommers in sich trägt. Da waren regnerische, nasse Tage, in denen die Morgendämmerung nie zu enden schien, um irgendwann nahtlos in Abend überzugehen. Da waren kalte, klare Tage, in denen die Stadt hinter überfrorenen Fenstern erwacht ist, das morgendliche Licht dichten Nebel aus dem Fluss gezogen hat – Momente, in denen man Schönheit aus dem Autofenster wahrnimmt, die sich der Kamera entziehen und die nur als Erinnerungen, als Gedanken und Worte bleiben können. Zwischendrin ungeordnete Ereignisse abseits des Alltags. Spaziergänge in fremden Orten mit lieben Menschen, die man sich derzeit nicht in geschlossenen Räumen zu treffen wagt. Dorfkater auf der Gartenbank, in der Sonne. Gemeinsames Essen im Freien, trotz der Kälte, um es überhaupt zu können. Wälder der Jugendjahre, schlammige Wege, Reif auf Blättern. Blick über eine Landschaft im Wandel, an der man wenig wiedererkennt. Fahrt durch Grenzbereiche zwischen Land und Stadt, in der Dämmerung, und dann Stadtstraßen, die Erinnerungen aufwirbeln. In der Stadt Glühwein und Eierpunsch – aber anders: Im Wald, auf einer Bank unter Nieselregen, mit Freunden fernab anderer Menschen. Der Monat ist kurz und gleichermaßen lang, und in seinem Ausklingen ist es spürbar Winter geworden, Winter in unverändert merkwürdigen Tagen.
In der Stadt wird es wieder still. Es bleibt ungewöhnlich und fremd, kurz nach der Dämmerung durch die Dresdner Altstadt zu schleichen und, um diese Jahreszeit, nicht von Touristen und Anwohnern umgeben zu sein. Die leeren Treppen und alten Fassadem im rötlichen Licht hinterlassen das andauernde intensive Gefühl später Nacht, und die kälteren Abende, gelegentlich der hohe bleiche Mond, verstärken diese Wahrnehmung noch. Man zieht seine Kreise durch die voranschreitende Zeit, durchquert die Stadt der Länge und Breite nach, endet irgendwann wieder in der Wärme der eigenen Zuflucht, die man wieder seltener verläßt. Verkürztes morgendliches Pendeln, erster Kaffee hinter jener Tür am anderen Ende des Flurs – wiedererlernte Routine nach nur wenigen Tagen. Einmal mehr die Beschränkung auch der dienstlichen Kontakte auf digitale Kanäle, die eigenartige kurze Umgewöhnung nach jedem Tag, die Welt nachmittags plötzlich wieder direkt, ohne Kopfhörer und Kamera, wahrzunehmen. Einmal mehr wieder Essen vom Lieferdienst, dann und wann, um jene zu unterstützen, die es in diesen Tagen wiederum schwer haben. Erste Versuche eines anderen sozialen Lebens, erste nicht-dienstliche Videokonferenzen mit Bier und Themen, die in den Besprechungen zu Projekten eher keinen Platz finden würden. Socializing, ohne die eigenen Räumlichkeiten verlassen zu müssen – der Traum introvertierter Teenager wird gewöhnungsbedürftige Realität in den frühen 2020ern, in diesem November.
Ferner in diesem November: Einmal mehr #bandcampfriday, das vorletzte Mal für das laufende Jahr. Vorwiegend nochmal herbstlichere Musik: Dark Ambient von Unsettled Dust. Winterlich-verschneiter Jazz Noir von Cities Last Broadcast. “UR” – ritueller, mit traditionellen tibetanischen Instrumenten verschnittener Industrial von Purba. Atmosphärischer Metal von Aran. Und ansonsten wieder einmal ausgegraben: Space-Rock-Ambient-was-auch-immer von ISON, die immer wieder den Weg zurück in die Kopfhörer finden zumindest in jenen Augenblicken, in denen keine Sprache diesen Weg nimmt. Da ist wieder der hohe Himmel über den Herbstabenden, auch wenn ihm unter den Lichtern der Stadt die Sterne fehlen.
Daneben einige kleine Erfolge. Beruflich – in Projekten, die langsam in die Gänge kommen. An manchen Stellen ist der Anlauf auch mit (oder vielleicht gerade wegen) Erfahrung schwierig. Komplexe Themen, herausforderne Zeitpläne, ein ehrgeiziger Sprint in Richtung Jahresende. Neue Menschen, neue Kollegen, von denen man manche noch nicht mal persönlich getroffen hat – aber trotzdem das Gefühl, die Dinge in die richtige Richtung bringen zu können, mit Engagement und Kommunikation und einem gewissen Maß an Ruhe, auch wenn Termine und Randbedingungen etwas haariger werden und man die Lernkurve noch nicht vollständig überwunden hat. Man bleibt in Bewegung. Man merkt, wie viel man an einem Tag schaffen kann, oder selbst noch in den 15min vor einem Call, wenn Richtung und Aufgaben klar sind; dann fällt selbst der mitunter stressige Wechsel zwischen Projekten, Kunden, Themen weniger schmerzhaft und zeitraubend aus. Und manchmal hält man abends inne, blickt auf die Stunden zurück und versucht sich zu erinnern, womit der Tag genau eigentlich begonnen hat. Es bleiben interessante Wochen.
Privater zweifelhafter Erfolg des frühen Novembers – die Überwindung, hier und dort Nutzer, Kommentare und Themen in (sozialen) Medien zu blocken, nicht wegen fehlendem Interesse oder fehlender Zustimmung, sondern wegen zunehmendem Widerspruch zu Stil, Wortwahl und allgemeiner Kommunikation. In anstrengenden Zeiten braucht es einfach keine zunehmende Verschärfung all dieses Unsinns durch polarisierenden, aggressiven Umgangston, fehlenden Respekt, nicht vorhandenes Verständnis für die Ängste und Nöte der Menschen außerhalb der eigenen Sphäre. Im Blick auf Verzerrung der Weltsicht, auf Filterblasen und Echokammern, auf Confirmation Bias und vergleichbare lästige Phänomene habe ich ein schlechtes Gewissen bei dieser Entscheidung. Aber vielleicht ist öffentliches Internet schlicht nicht der Ort für tiefgreifende politische und gesellschaftliche Diskurse. Noch nicht. Nicht mehr. Keine Ahnung. Vielleicht ist konstruktiver Journalismus eine Alternative, wie ihn Perspective Daily oder squirrel-news betreiben. Vielleicht sollte man den Eingang auf Publikationen beschränken, die umfangreiche und recherchierte Artikel in einem angemessenen Stil und Ton vortragen, wie brand eins. Wir lesen viel zu viel Mist, der uns schwer auf Gedanken und Seele liegt, ohne schön oder freundlich, hilfreich oder konstruktiv zu sein oder uns in uns, in der Welt irgendeinen Schritt weiter zu bringen, abgesehen von Schritten Richtung Zynismus, Frust und Verzweiflung.
Why are we reading, if not in hope of beauty laid bare, life heightened and its deepest mystery probed?
Annie Dillard
Vielleicht bleibt aber auch die beste Möglichkeit, diesen ganzen digitalen Kram zu nutzen, immer noch Erweiterung des eigenen Horizonts, Inspiration, Wissenserwerb, Kreativität in dieser oder jener Form. Vielleicht ist es auch vollständig egal, so lang man imstande ist, sich auf ein Mindestmaß an Umgangsformen zurückzubesinnen und seine Mitmenschen nicht so anzusprechen, wie man auch selbst nicht angesprochen werden möchte. Früher hieß das Netiquette und konnte reduziert werden auf die Formel: “Vergiss niemals, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt”.
Alles Weitere ist schnell berichtet… mittlerweile steht auf dem Monatskalender eine große 12. Bleicher Vollmond hängt über der Stadt, taucht zusammen mit unzähligen Sternen, Schwibbögen, Lichterketten die Höfe und Straßen in eigenwilliges Licht. Erster Schnee überstreift die Dächer, das Kratzen auf Autofenstern wird wieder zum gewohnten Geräusch in den Morgenstunden, dort hinter den Fenstern des Büros zu Hause. Bald werden vor dem Supermarkt des geringsten Misstrauens wieder Weihnachtsbäume verkauft, Glühwein und Lebkuchen gibt es schon lang wieder. Vielleicht braucht es solche Dinge, an denen sich Rituale und Gedanken halten können, in unsicheren Tagen und nach einem Jahr, aus dem man sehr viele hätte machen können. Behaltet sie bei Euch, und kommt wohlbehalten und gesund durch diese Wochen. Bis später… 🙂️