Bildungswüste Deutschland
Heute ist es also offiziell: UN-Berichterstatter Munoz zerhackt in vernichtender Kritik das deutsche Bildungssystem, attestiert dem deutschen Schulwesen Chancenungleichheit zuungunsten von Schülern aus sozial schwächeren Kreisen, doch während man anhand der PISA-Studien, die auch in Deutschland für einiges Aufsehen gesorgt haben, eigentlich Grund genug hätte, sich ernstlich Gedanken über Erkenntnisse und Aussagen des Berichtes zu machen, übt man sich hierzulande schon im Vorfeld in Demontage der Kritik und des Kritikers, in eigener Kritik-Unfähigkeit und Lobhudelei auf das deutsche Schulsystem. Wie muß man eigentlich veranlagt sein, um selbst angesichts international vernichtender Schelte derartiges Selbstbewußtsein zu vertreten? Vielleicht sollten sich im Lande endlich einige Damen und Herren von der Geistlosigkeit platter Partei-Politik verabschieden und einsehen, daß Dinge permanent in Veränderung sind, daß mithin insbesondere auch ein Schulsystem, welches dafür ausgelegt sein sollte, Heranwachsende in eine sich ändernde Gesellschaft einzuführen, für diese Veränderungen offen und diesen angepaßt sein muß? Ein paar eigene Ideen zur Reform des Schulsystems, teils aus Beobachtungen, teils aus eigenen Erfahrungen erwachsend:
(a) Weg mit dem dreigliedrigen Schulsystem! Die Chance für große Mengen von Schülern, mit niedriger Qualifikation (oder ohne Abschluß) die Schulbank zu verlassen, ist sicher wirtschaftlich sinnvoll in Tagen, in denen ein großer Markt für einfache 9-to-5-Jobs existiert, die es ohne allzu hohe Anforderungen erlauben, sich über ein ganzes Arbeitsleben hinweg einen soliden Lebensunterhalt zu verdienen. Ob diese Möglichkeit angesichts der anhaltenden Diskussion über Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften in Deutschland bei ansonsten immer noch hohen Arbeitslosenzahlen noch gesamtpolitisch/-wirtschaftlich sinnvoll ist, steht zu hinterfragen. Also: Weg mit der Hauptschule und Installation einer mindestens zehn Klassen umfassenden Schulpflicht für alle, in der der Abgang ohne Abschluß absoluter Ausnahmefall sein muß. Bei näherer Überlegung: Angesichts (zumindest statistisch) zunehmender Lebenserwartung und etwa der akuten Diskussion um die Rente mit 67, was spricht eigentlich gegen eine 12-Klassen-Schulpflicht?
(b) Weg mit dem Förderalismus im Bildungssystem: Auch hier sollte man wohl spätestens im Halbjahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft das, was historisch möglicherweise sinnvoll gewesen ist, hinterfragen. Welchen Nutzen hat es, über Europa zu diskutieren, wenn man in Deutschland nicht einmal ein Abitur erwerben kann, welches in allen Bundesländern gleichen Wert hat und gleiche Anerkennung genießt? Im Hinblick auf das (zu begrüßende) Streben nach “Europa” mutet der Bildungs-Förderalismus in Deutschland wie ein Rückfall in Zeiten der Kleinstaaterei an.
(c) Weg vom faktenbasierten Frontal-Unterricht, hin zu einem “aktiven Erlernen” von Wissen. Arbeit von Schülern in kleinen Gruppen würde vermutlich nicht nur den Lern-Effekt verbessern (indem man sich Dinge, die man sich selbst erarbeitet hat, einfach besser merkt als jene, die einem durch Dritte “vermittelt” werden sollen), sondern die Schüler auch mit Erfolgserlebnissen versehen, selbst etwas “herausgefunden” zu haben, und dabei noch ganz nebenbei die mittlerweile vielgerühmten “soft skills” wie Team-Fähigkeit, Kommunikation und Konflikt-Lösung der Schüler bereits in frühen Jahren ausbilden. Und wenn junge Menschen dabei vielleicht sogar noch lernen, andere junge Menschen in ihrer Andersartigkeit zu erfahren und zu akzeptieren, wäre das sicher auch ein nicht unsinniger Nebeneffekt dieser Übung.
(d) Mehr Ganztagsschulen, mehr Möglichkeiten, Wissen “erfahrbar”, “erlebbar” zu machen. Ich vermute, daß viel gewonnen wäre, wenn man den Schülern zeitlich entspannt Spaß am Wissenserwerb und Neugier auf Dinge vermitteln könnte, anstelle sie morgens mit trockenen Fakten zu füttern und dann zuzulassen, daß sie (oder die Umwelt) ihren Kopf schon in jungen Jahren mit Produktwerbung, Lifestyle-Quatsch und sonstiger inhaltsloser Scheiße vollstopfen, sobald sie die Tür des Schulgebäudes hinter sich geschlossen haben. Zu unseren Schulzeiten hatten “Arbeitsgemeinschaften” dort viel Wert – dort hat man strenggenommen im 45 Minuten des Probierens und Experimentierens weit mehr gelernt als in 45 Minuten mehr oder weniger konzentrierter Präsenz in einer Schulstunde.
(e) Abschaffung sämtlicher Beamten-Privilegien von Lehrern, verbunden mit finanzieller Entlohnung von Engagement für die Schüler. Dazu die Pflicht für das Lehr-Personal, sich regelmäßig fachlich und im Hinblick auf Methoden der Didaktik weiterzubilden, sowie Überprüfung der Wirksamkeit dieser Weiterbildungen. Und, vielleicht perspektivisch, Zulassungs-Auswahl für den Lehrer-Beruf (bzw. das Lehramts-Studium) basierend nicht nur auf fachlicher, sondern auch sozialer Kompetenz. Ein Lehrer sollte mit Menschen umgehen, auf Menschen eingehen, insbesondere auch mit Kindern gut arbeiten können. Wer das nicht kann, sollte lieber (im Interesse der Gesellschaft) ‘was anderes tun.
(f) Einführung von Schul-Uniformen, bei gleichzeitiger Unterbindung von möglichst vielen Wegen, über die sich Schüler in der Schule durch materiellen Besitz profilieren können. Sicher ist Kleidung ein Ausdruck von “Persönlichkeit”, aber wenn es der einzige Weg des Ausdrucks der Persönlichkeit eines Individuums ist, ist ohnehin alles verloren. In der Schule sollte das Augenmerk auf die Vermittlung konkret anderer Werte gelegt werden. Ich glaube durchaus, daß das auch in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern) gut funktionieren könnte – vielleicht könnte man den Schülern Mitsprache-Recht bei der Gestaltung der Schulkleidung einräumen (oder die komplette Verantwortung für ebendiese auferlegen).
(g) Mehr Breiten-, weniger Tiefen-Unterricht. Im Hinblick auf die eigene Schulzeit frage ich mich immer mal wieder, ob es sein mußte, zwei Jahre Oberschule mit Faust I und II zu “verschwenden”, während man Autoren wie Rilke, Hesse, Kafka oder Graf erst sehr viel später kennen- und schätzengelernt hat. Ich frage mich, ob es sinnvoll ist, Schülern im Musik-Unterricht bis zur zehnten Klasse durch massive Beschallung fast schon Aversion für das Lebenswerk von Beethoven und Mozart anzutrainieren, während sie Rachmaninov oder Mussorgski dann nicht mal dem Namen nach kennen.
Ich hör’ lieber auf, sonst schreib’ ich mich noch in Rage… Abschließend hoffe ich, daß trotz der (im Nachhinein, betrachtet man den Umgang mit Sachpolitik in Deutschland) wenig überraschenden Reaktionen der deutschen Bildungspolitik-Prominenz, die Kritik des Herrn Munoz zumindest stellenweise auf fruchtbaren Boden fällt und hier und da erkannt wird, daß das Beharren auf einem liebgewonnenen Status Quo nicht notwendigerweise der beste Weg ist.