Souls at zero
Tage am Meer… Auf dem Weg zum Strand im schweren, staubigen Kombi. Kofferraum vollgepackt mit Zeugs, kreuz und quer durcheinander. Eine Kiste Bier, einige Flaschen besseren Weins. Dinge, die man so braucht. Packenweise Schokolade, ein paar Stangen Zigaretten, Bücher, Papier. Decken. Windlichter. Musik, so viel Musik. Das Auto geparkt irgendwo im Gras, unter den Bäumen gleich hinter den Dünen, und dann los. Decken in den Sand, Musik an, Welt verschwindet hinter dem Wind, der Dämmerung. Wir trinken, lesen, rauchen, lieben. Schokolade und Wein im Abendrot. Wir sind angeheitert, wild, trunken von Lebenslust, Sonne, Sand. Wir tanzen, schreien, zeichnen, schreiben, im ausgehenden Licht des Tages, Worte wie der Nachthimmel: Tiefschwarz, tausendfach glitzernd, groß, schwer und ohne Ende. Werfen unsere Worte in Flaschen weit ins Meer, bedeutungsschwangere Botschaften für irgendjemanden, irgendwann, nur nicht für uns… bevor wir selbst folgen, nackt und lachend unter dem weiten Sternenhimmel, nicht einmal abgeschreckt durch die Kälte der See, die rauhe Berührung der Wellen. Liegen im Sand, danach, genießend den Rest der Wärme des Tages, des ganzen Sommers, dahinträumend im Rauschen der Brandung….
Dann hat sich mit dem Namen der Nacht
langsam die Stille besternt.
Da waren wir wie aus allen erwacht
und weit voneinander entfernt:
haben die Sehnsucht, die traurig macht,
wie ein Lied gelernt…
(Rainer Maria Rilke)
Am Morgen danach hat der Wind die letzten Kerzen gelöscht, Papier und Haare zerzaust, uns und alles von uns mit einer feinen Sandschicht überzogen. Wir verbergen uns hinter den Dünen im Schutz von Büschen und Hecken. Unisex-Outdoorkleidung in Erdtönen, Frösteln im frühen Wetter. Mentaler Nullpunkt.
Wir frühstücken karg, kauen an vegan belegten Vollkornbroten und nippen an stillem Mineralwasser. Selbstvorwürfe. Schuldgefühle. Angst. Schokolade? Alkohol? Ungesund und lebensverkürzend all das, keine Frage. Von Zigaretten ganz zu schweigen. Die Bücher der Nacht sind irgendwo verschollen. Besser so – launische Ideen von sprunghaften Biographien, die es nie geschafft haben, sich irgendwie in der Welt zu finden, oder die nie ‘grown-up’ genug waren, um das Ergebnis dieser Findung zu akzeptieren und zu leben, ohne permanent aufzubrechen, zu hinterfragen, zu irritieren. Unbeherrschte, enthemmte Charaktere ohne jegliche Selbstkontrolle. Wir sind dort weiter. Irgendwie. Zum Glück. Unsere Smartphones laden am Zigarettenanzünder, piepsen dann und wann, bringen uns eine merkwürdige Sicht auf eine Welt im Chaos, eine Welt aus den Fugen überklebt mit dringenden Mails, Terminen für morgen, und Wagenladungen an Belanglosigkeiten. Shallowness meets despair. Futter für unsere Angst. Gleichsam Heilmittel gegen die absolute Hilflosigkeit inmitten all dieses unbegreiflichen Treibens.
Können wir überhaupt irgendwie anders? Wollen wir anders? Gestern vielleicht noch. Heute … Heute packen wir die Reste der Nacht obenauf auf die vollen Container mit dem Abfall und Treibgut, das die Touristen des Sommers am Strand zurückgelassen haben, und hoffen darauf, unser Fahrzeug wieder in Gang zu bekommen, das Parken abseits befestigter Fläche nicht gar so sehr zu bereuen. Und irgendwann sind wir auf der Autobahn nach Süden. Fahren stur geradeaus. 120 km/h, der Himmel ist grau, die Straße leer. Das Meer liegt hinter uns, irgendwo, weit weit weg.
All unsere Flaschen-Nachrichten sind im Wind des Morgens zurückgekommen, am Ufer zerbrochen. Das Papier ist aufgeweicht, die Worte und Zeichnungen sind ausgewaschen und unlesbar…